Ihr Gemüseladen ist Rosas ganzer Stolz. Doch als Enkel Nino sein Liebesglück riskiert, kann sie nicht tatenlos zusehen und trifft eine Entscheidung – für Nino, für sich selbst und für die Liebe …

 

Rosa begutachtete gerade die frisch gelieferten Auberginen, als ihr Enkel Nino in den Laden stürmte.

„Mir reicht’s!“, schimpfte er. „Endgültig! Ich geh zurück nach Italien.“

„Na, na“, brummte Rosa und wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze ab. „Was willst du denn in Italien, du Nichtsnutz?“

„Ein Restaurant aufmachen! Ich bin gut im Kochen.“

Rosa brach in schallendes Gelächter aus. „Du bist gut im Träumen, Nino, sonst nichts. Schluss jetzt mit dem Unsinn! Hier gibt’s genug für dich zu tun, schau!“ Sie wies auf die Kisten mit Obst und Gemüse, die der Lieferant auf dem Bürgersteig abgeladen hatte.

Murrend machte Nino sich daran, sie in Rosas Geschäft zu schleppen. Er half ihr gern aus, wenn er Zeit hatte und sie war ihm dankbar dafür. Der Rücken machte ihr doch ziemlich zu schaffen in letzter Zeit. Aber der kleine Laden war ihr ganzer Stolz, sie besaß ihn seit über 30 Jahren und wenn es nach ihr ging, würde sie auch noch die nächsten 30 Jahre hier das Regiment führen. Und nebenher diesem Hitzkopf von Enkel auf die Finger sehen …

Seufzend sortierte Rosa ein paar fleckige Trauben aus. Bestimmt hatte Nino sich wieder mit Katja gestritten. Dabei sollte doch in Kürze die Hochzeit stattfinden, auf die sich die ganze Familie seit Wochen freute. Sogar die Sippschaft aus Verona hatte Rosa eingeladen. Immerhin war Katja die erste deutsche Verwandte, die sie haben würden, das war doch etwas Besonderes. Wenn nur Nino mit seinem Dickschädel nicht in letzter Minute alles vermasselte …

Rosa beschloss, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Während Nino einige Kunden bediente, schlich sie ins Hinterzimmer und mühte sich mit dem Telefon ab, dessen Tasten für ihre Finger immer viel zu winzig schienen. Endlich hatte sie es geschafft.

„Katja? Hier ist Mamma Rosa. Was ist los?“

*

„Der spinnt doch!“, wiederholte Katja erzürnt.

Sie saß in Rosas Küche und blies vorsichtig in den dampfenden Espresso. Nino ahnte nichts davon, dass sie sich hier trafen. Rosa wusste, dass er es nicht ausstehen konnte, wenn sie sich in seine Angelegenheiten einmischte – aber sie konnte doch unmöglich tatenlos dabei zusehen, wie er seine Hochzeit riskierte? Wie er dieses hübsche, kluge, liebenswerte Mädel vor den Kopf stieß? Eine bessere Braut würde er niemals finden, da war Rosa ganz sicher. Von der Liebe verstand sie was, und dass diese beiden sich liebten, das war offensichtlich.

„Natürlich liebe ich ihn“, sagte Katja wie zum Beweis. „Nur stelle ich mir meine Zukunft eben anders vor. So ein Blödsinn, diese Idee von einem gemeinsamen Restaurant!“

„Nino ist nun mal ein Träumer.“

„Ich habe aber auch Träume“, beharrte Katja. „Ich möchte Lehrerin werden, nicht Pizza servieren.“

Rosa tätschelte ihr liebevoll den Arm. „Du hast völlig Recht, Lehrerin ist ein schöner und wichtiger Beruf. Davon solltest du dich nicht abbringen lassen, auch nicht von Nino. Wir Frauen müssen selbst über unser Leben entscheiden und dürfen nicht alles den Männern überlassen.“

Katja nickte. „Ich bin froh, dass du mich verstehst.“

„Ich kann aber auch Nino verstehen“, meinte Rosa. „Luigi, mein Mann, wollte auch immer selbständig sein, sein eigenes Geschäft haben. Als er so früh starb, musste ich es allein übernehmen. Aber glaub mir, ich habe es nie bereut. Der Gemüseladen ist mein ganzes Glück, abgesehen von meinen Kindern und Enkelkindern. Vielleicht liegt das unserer Familie im Blut. Wir sind nur zufrieden, wenn wir unser eigener Chef sind.“

Sie saßen noch eine Weile beisammen und plauderten, bis Katja aufbrechen musste. Rosa ließ sie jedoch nicht gehen, bevor sie ihr fest versprochen hatte, die Hochzeit nicht abzusagen. Im Gegenzug versprach Rosa, bei Gelegenheit ein Wörtchen mit Nino zu reden. Nachdem Katja gegangen war, saß Rosa noch lange, lange am Küchentisch und dachte nach.

*

In den folgenden Wochen behielt sie Nino streng im Auge. Aber offenbar hatten er und Katja sich wieder zusammengerauft. Von einer Rückkehr nach Italien oder sonstigem Unfug war jedenfalls nicht mehr die Rede. Versonnen betrachtete sie ihren Enkel, wie er im Laden half – Gemüse sortierte, Obst abwog, mit den Kundinnen scherzte. Ohne Zweifel, er war tüchtig und es machte ihm Spaß.

Mit einem Stapel Briefe zog Rosa sich ins Hinterzimmer zurück. Die Verwandtschaft aus Italien hatte zahlreich zugesagt, zur Hochzeit im Mai zu erscheinen. Sie freute sich darauf, sie alle wiederzusehen. Besonders Paolo. Er war ein entfernter Cousin, in den sie als junges Mädchen heimlich verliebt gewesen war. Inzwischen war er ebenfalls verwitwet, wie sie wusste. Er hatte ein Foto von sich beigelegt, aufgenommen vor dem großen Weinberg, den er besaß. Wie Paolo schrieb, bewirtschaftete er das Weingut noch selbst. „Aber ich denke, es wird langsam Zeit, es in die Hände meiner Söhne abzugeben“, stand in seinem ausführlichen Brief. „Ich träume davon, mich zur Ruhe zu setzen und meinen Lebensabend zu genießen. Was ist mit dir, bella Rosa? Willst du für immer in Deutschland bleiben?“

Rosa blickte auf die blassblaue Schrift, die verschwamm, als eine Träne darauf tropfte. Hastig wischte sie über das Papier. Ja, an manchen Tagen hatte sie Sehnsucht nach Italien. Nach dem Rauschen der Pinienwälder, dem Duft der sonnenverwöhnten Erde und dem stetigen Rufen der Zikaden. Sie las zwischen den Zeilen in Paolos Brief heraus, dass er sich an sie erinnerte. Bella Rosa, so hatte er sie im Spaß manchmal genannt. Schöne Rosa. Es war so lange her, aber in Rosas Herz begann die Vergangenheit leise zu singen …

*

Die Hochzeit von Nino und Katja fand an einem Freitag im Mai statt. Rosa war völlig aus dem Häuschen. So viele Gäste waren gekommen, etliche davon hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Doch ihre Augen wanderten immer wieder zu Paolo, der vor zwei Tagen schon angereist war. Lange hatten sie sich unterhalten, viel gab es zu bereden zwischen ihnen. Rosa lächelte. Alt war Paolo geworden, wie sie selbst, faltig seine Haut und grau sein Haar. Aber der Schalk blitzte immer noch aus seinen Augen und wenn er sie anschaute, wurde ihr richtig warm ums Herz.

Nach einer wundervollen Trauungszeremonie in der Kirche, bei der Rosa das ein oder andere Tränchen verdrückte, gab es ein köstliches Essen in der italienischen Trattoria von Ninos Eltern. Die Gaststube platzte beinahe aus allen Nähten, aber das tat der guten Laune aller keinen Abbruch. Als die Stimmung fast auf dem Siedepunkt war und die Musiker, die zum Tanz spielen sollten, begannen, ihre Instrumente auszupacken, entschied Rosa, dass der Moment gekommen war. Sie hatte dem Brautpaar etwas zu sagen.

„Ruhe bitte!“ Energisch klopfte sie gegen ihr Glas.

Augenblicklich verstummten alle und sahen sie gebannt an.

„Ich habe euch etwas mitzuteilen.“ Sie schluckte und ihre Stimme zitterte kaum merklich, als sie weitersprach. „Ich setze mich ab sofort zur Ruhe und … werde nach Italien zurückgehen.“

Aufgeregtes Raunen entstand. Nur Paolo lächelte ihr zu. So liebevoll, als wollte er sie allein mit seinem Blick umarmen. Rosa nickte ihm zu und fuhr fort: „Meinen Laden habe ich bereits an Nino überschrieben. Er ist der neue Besitzer.“

„Was?“, rief Nino entgeistert.

Rosa stemmte die Hände in die Hüften. „Du wolltest dich doch selbständig machen“, sagte sie herausfordernd. „Nun zeig, dass du es kannst! Sonst muss dich bald deine Frau Lehrerin aushalten.“ Sie zwinkerte Katja verschwörerisch zu. Die junge Braut strahlte vor Glück. Für Rosa war das die letzte Gewissheit, dass ihre Entscheidung die einzig Richtige gewesen war.

Nino hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er sprang auf und umarmte Rosa stürmisch. „Ich danke dir tausend Mal!“ Mit funkelnden Augen wirbelte er sie herum. „Oh, Mamma Rosa, bist du dir sicher, dass du das für uns tun willst?“

„Absolut“, meinte Rosa gerührt. „Aber nicht nur für euch, sondern auch für mich. Mein altes Herz sehnt sich nach Ruhe. Und jetzt Schluss damit, mir wird ja ganz schwindelig …“

*

„Denkst du noch manchmal an Deutschland?“, fragte Paolo wenige Wochen später.

Sie saßen am späten Nachmittag auf der Terrasse im Schatten des Weinbergs und genossen die friedliche Stille der Umgebung und die sanfte Wärme der letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

„Jeden Tag“, sagte Rosa wehmütig. „Aber ich fühle, mein Zuhause ist hier, in Italien. Bei dir.“

Er nahm ihre Hand und küsste sie. „Bist du glücklich, bella Rosa?“

Sie nickte lächelnd. „So glücklich, wie man nur sein kann, mein Herz.“