Anne W. (35): Ich liebte Mark über alles. Er war der Mann meiner Träume, wir wollten heiraten. Dann hatten wir diesen schrecklichen Unfall, der mein Leben für immer verändern sollte …

 

“Fahrt vorsichtig”, rief Mutter uns nach. Ich hob nur die Hand und winkte zurück. Sie hätte meine Worte ohnehin nicht mehr gehört, denn wir saßen im Auto, auf dem Weg zurück nach Hause. Zu unserem, Marks und meinem Zuhause, dort, wo wir nach unserer Hochzeit leben würden. Nur noch wenige Wochen trennten uns von der Zeremonie und wir steckten mitten in den Vorbereitungen.

“Steht sie noch immer an der Straße und sieht uns nach?”, unterbrach Mark meine Gedanken. Ich schaute in den Spiegel und ja – da stand sie. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, es war wunderbar zu wissen, dass man geliebt wird.

“Natürlich, das macht sie jedes Mal”, sagte ich lächelnd und blickte erst wieder nach vorne auf die Straße, als ich Mutter nicht mehr im Rückspiegel sehen konnte.

Wir waren schon vor einigen Monaten umgezogen, lebten nun in der Stadt und damit eine gute Stunde Autofahrt von meinem früheren Zuhause entfernt. Mutter kam nicht gut damit zurecht, denn sie lebte alleine. Mein Vater war bereits vor einigen Jahren gestorben. Doch ich musste mein Leben auf mich ausrichten, mir meine Zukunft aufbauen, eine eigene Familie gründen. Als Mark in mein Leben trat, hatte ich sofort gewusst, wie es weitergehen würde. Er war der Mann, mit dem ich zusammen alt werden wollte. Den Kinderwunsch hatten wir erst mal zurückgestellt, denn Mark steckte mitten in seiner beruflichen Karriere als angesehener Architekt. Marks Ziel war ein eigenes Architekturbüro, das wollte er in zwei oder drei Jahren erreicht haben. Er hatte erst vor kurzem eine Anstellung in einer großen Firma gefunden. Daher auch unser Umzug in die Stadt, so hatte er es näher zu seiner Arbeitsstelle. Ich suchte noch nach einer Arbeit, bis jetzt hatte ich noch keine Stelle gefunden, die mir zugesagt hatte. Doch ich hatte keine Bedenken, gute Sekretärinnen waren immer gefragt. Es war in meinen Augen nur eine Frage der Zeit.

*

Wir plauderten auf den ersten Kilometern unserer Fahrt, aber dann verfielen wir bald in Schweigen. Die Landschaft rauschte vorbei, wir hatten eine freie Autobahn vor uns und irgendwann wurde ich durch das gleichmäßige Brummen des Wagens so müde, dass mir die Augen zufielen.

Ich hätte nicht sagen können, wie lange ich geschlafen hatte. Plötzlich gab es einen entsetzten Schrei von Mark und noch bevor ich registrierte, was los war, knallte es furchtbar und meine Welt wurde schwarz.

*

Ein helles Licht umfing mich, so zart und weich, dass ich es einfach nur wortlos betrachtete. Seine Schönheit war unvergleichlich, ähnlich einem Sonnenaufgang, der die ganze Welt in Gold tauchte und so unwirklich aussehen ließ. Aber dieses Licht, das mich umhüllte, war noch viel brillianter, es schimmerte in sich selbst und gab mir eine Liebe, die mir den Atem raubte. Ich fühlte mich federleicht und schwebte mit dem weißgoldenen Glanz des Lichts davon. Ich erhob mich höher, immer höher und blickte verwundert nach unten. Es schien so selbstverständlich, dass ich plötzlich fliegen konnte. Ein Blick nach unten zeigte mir einen dunklen Haufen verbogenen Blechs, Trümmer und Durcheinander. Ich hielt inne, schwebte auf der Stelle und kreiste neugierig. Da erkannte ich es – dies war unser Auto! Ich registrierte es mit Staunen und verspürte dennoch keine Angst. Es war mir irgendwie so fremd, so weit weg. Fast so, als würde ich es in einem Film sehen. Ich schwebte in weiten Kreisen über dem Wrack und erblickte mich plötzlich selbst, ein Opfer des Unfalls. Mein Gesicht war blutverschmiert, die Augen geschlossen, ein Arm lag seltsam angewinkelt an meinem Körper. Dort, wo meine Beine waren, sah ich nur verbogenes Blech und Wrackteile, und doch verspürte ich keinen Schmerz. Ich fragte mich nicht, wie es möglich war – ich nahm es einfach hin und betrachtete meinen Körper, als gehörte er einer fremden Person. Mark lag reglos auf dem Fahrersitz. Er sah aus, als würde er schlafen, seine Augen waren geschlossen. Seine Beine steckten ebenfalls unter dem ganzen Metall und ich betrachtete ihn voller Mitleid.

Der Lichtnebel hob mich sanft an, ich schwebte wieder nach oben. Da verspürte ich eine Präsenz, die Nähe von irgendjemandem, doch niemand war da. Ich blickte umher, versuchte, mich zu drehen und hatte dabei das Gefühl, wie im Meer zu schwimmen. Jede Bewegung war, als ob ich gegen eine unsichtbare Strömung ruderte. Ich blickte umher und erkannte plötzlich eine Person, die auf mich zukam. Inmitten dieses Meers aus Licht kam sie näher und ich erkannte Mark. Er lächelte. Als ich seinen Namen rufen wollte, kam kein Ton heraus, aber dennoch hatte er mich verstanden. Plötzlich hörte ich in meinem Kopf seine Stimme.

“Anne.”

“Mark! Was geschieht hier?”

“Ich weiß es nicht. Aber es ist wunderschön, zu fliegen.”

Er reichte mir seine Hand, doch ich spürte sie nicht. Ich sah, wie wir die Finger ineinander verschränkten, sein Ring blitzte in dem weißen Licht auf und sandte einen Stich direkt in mein Herz. Es war, als würde ich plötzlich alles wissen. Mein Liebster, dachte ich verzweifelt, unsere Hochzeit. Der Unfall. Wir hatten einen Unfall gehabt, der Wagen war Schrott und wir lagen schwer verletzt darin.

“Hab keine Angst, es ist nicht schlimm”, vernahm ich Marks Stimme. Er lächelte und sah glücklich aus. Hand in Hand schwebten wir höher und höher, bis ich auf einmal einen Ruck an den Beinen verspürte. Verwundert blickte ich nach unten. Unser Auto war nur noch ein Punkt in der Ferne, um es herum blinkten unzählige blaue Lichter und ich hörte Menschen rufen.

“Sie lebt noch!”

Aber natürlich lebte ich – ich konnte doch denken und mit Mark reden.

“Komm mit mir”, sagte Mark und hielt meine Hand, wollte mich weiterziehen, doch ich konnte nicht mehr fliegen. Ich spürte, dass ich unaufhaltsam nach unten sank, aber Mark entfernte sich von mir, stieg mit dem weißen Licht auf.

“Geh nicht”, rief ich und wollte ihm folgen. Doch nichts geschah. Nun zerrte ein starker Sog an mir, zog mich weiter nach unten, schneller, immer schneller.

Hatte ich die ganze Zeit in diesem Licht ein wohliges, warmes Gefühl gehabt, so breitete sich jetzt Angst in mir aus. Sie war kalt und düster, packte mich mit ihrem eisigen Atem und zog mich immer tiefer. Ich wollte nicht aus dieser wunderbaren Lichtwolke hinaus, ich wollte mich nicht von Mark trennen. Verzweifelt musste ich mit ansehen, wie er immer höher flog und dabei lächelte. Sein Körper glänzte wie flüssiges Gold und er wurde kleiner, bis ich ihn kaum mehr sehen konnte und er vollkommen in dieses Licht eintauchte.

“Sie wacht auf”, hörte ich jemanden sagen und ich dachte kurz, dass ich doch überhaupt nicht schlief.

“Mark”, rief ich verzweifelt und hörte mich selbst wie aus weiter Ferne. “Warte auf mich, bitte!”

“Ja, ich werde auf dich warten”, hörte ich seine Stimme so liebevoll in meinem Kopf, dass es schmerzte, ihn nicht mehr sehen zu können. Ich hob den Kopf, aber konnte kein Licht mehr erkennen. Trauer überschwemmte mich wie eine dunkle Welle und drang in mein Herz.

“Mark, ich kann dich nicht mehr sehen”, flüsterte ich und hoffte so sehr darauf, dass er zurück kam.

“Sei nicht traurig, Anne”, erklang Mark aus weiter Ferne. “Ich muss jetzt gehen. Es ist wunderschön in diesem Licht.”

“Wo gehst du hin?”, rief ich verzweifelt. “Komm zurück.”

Ich spürte einen heftigen Ruck und plötzlich taten meine Beine unglaublich weh. Dann hörte ich das schrille Kreischen einer Säge, das Knirschen von Metall. Ich fühlte wieder die Schwere meines Körpers, spürte die Schmerzen und schlug die Augen auf.

Ein Mann lächelte mich an. Sein Gesicht war schweißgebadet und er trug einen Helm. Es war nicht Mark.

Feuerwehr, dachte ich in einem kurzen Moment der Erkenntnis und verlor das Bewusstsein.

*

Alles um mich herum war weiß, es dauerte eine Zeit, bis ich alles einsortieren konnte. Ich lag in einem Krankenhaus, neben mir stand ein Apparat, der stetig piepste. Ich sah Mutter, die am anderen Ende des Zimmers an dem kleinen Tisch saß und den Kopf auf ihre Arme gebettet hatte. Vermutlich schlief sie.

Unvermittelt fragte ich mich, wie lange ich geschlafen hatte. Wie lange war ich schon hier? Mein Mund war trocken, gerne hätte ich etwas getrunken. Ein Rascheln zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Mutter rührte sich, sie gähnte und streckte sich.

“Hallo Mama”, sagte ich und erschrak über das Krächzen, das statt verständlichen Worten aus meiner Kehle kam.

“Du bist wach!”, rief Mutter aus und ich sah Tränen in ihren Augen schimmern. “Mein Gott, Kind, ich habe so lange darauf gewartet.”

Lange? Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach. Aber wie lange denn? Ich wollte sie fragen, doch ich fand keine Worte.

Sie kam an das Bett und ergriff meine Hand. Erst jetzt erkannte ich, dass meine Beine in Gips lagen, und auch der linke Arm. Meine Güte, was war bloß mit mir geschehen? Ich hatte keinerlei Erinnerung mehr an den Unfall, es war alles wie weggewischt.

Ich starrte Mutter einfach nur an, erkannte die stumme Liebe in ihren Augen und das Glück in ihrem Herzen. Als ich zaghaft lächelte und ihre Hand drückte, flog ein Schatten über ihr Gesicht. Es verdunkelte sich so rasch, als wären schwere Wolken aufgezogen.

“Kind, ich bin so froh, dass du wieder bei uns bist. Wir dachten schon …” Sie brach ab und zog ein Taschentuch hervor. Wieder rannen Tränen über ihr Gesicht.

“Nicht doch”, sagte ich. “Nicht weinen.”

“Ach, Kind …”

Da fiel mir etwas ein. “Wo ist Mark?”, fragte ich.

Mutter blickte zu Boden und es erschien mir, als würde sie den Atem anhalten.

“Er … ist …”, begann sie, ihre Stimme klang brüchig. Sie sprach den Satz nicht zu Ende und sah mich immer noch nicht an. Irgendwie ahnte ich, dass sie mir etwas Schlimmes sagen wollte.

“Mutter, was ist mit ihm?”

Sie schluchzte leise auf und ich hörte plötzlich Marks Stimme in meinem Kopf. Anne, es ist so wunderschön in diesem Licht.

Ich begriff. Mutters Schluchzen bestätigte es. Die Wucht der Erkenntnis raubte mir den Atem. Ich starrte an die Decke, sie war weiß. So weiß wie das Licht, nein, so weiß konnte gar nichts auf dieser Welt sein.

Mark war tot. Er hatte gesagt, er müsse gehen, es fiel mir wieder ein.

Eine Träne rollte über meine Wange, ich wischte sie nicht weg, weil Mutter noch immer meine Hand hielt. Es kitzelte, als weitere Tränen folgten, stumm weinte ich und starrte in das Weiß. Mein Gott, Mark, warum? Er hatte so glücklich in diesem Licht ausgesehen. Ich war davon überzeugt, dass er nun jenseits aller Schmerzen war, losgelöst von dieser Welt in einem schöneren, vielleicht glücklicheren Land …

*

Es dauerte noch mehrere Wochen, bis ich wieder zurück nach Hause gehen konnte. Zu Mutter, nicht mehr in die Stadtwohnung. Mutter kümmerte sich rührend um mich, ich ließ sie gewähren und genoss die Fürsorge. Meine Beine, die mehrfach gebrochen waren, heilten langsam wieder, an meinem Arm würde eine sichtbare Narbe zurück bleiben. Doch der Bruch in meinem Herzen und die Narbe des Verlusts meines Liebsten, sie würden für immer da bleiben. Ich verwand Marks Tod nur mühsam, ich verstand einfach nicht, warum er hat gehen müssen und ich zurück in mein Leben geschickt wurde. Warum war ich so nahe am Tod gewesen und warum durfte ich weiterleben? Diese ganzen “Warum” und “Wieso” raubten mir oftmals den Schlaf, ich kam nicht dahinter. Gab es einen tieferen Sinn? Bestimmt, den musste es geben.

Wenn ich an das wunderbare, leichte Gefühl in dieser Lichtwolke zurück dachte, durchflutete mich stets eine Welle der Zuversicht. Je länger ich mir Gedanken darüber machte, desto sicherer wusste ich, dass ich irgendwann die Antwort auf meine Frage erhalten würde. Die Antwort darauf, warum ich wieder aus dem Licht heraus gezogen wurde und weiterleben durfte.

Ich hatte es nur meiner Mutter erzählt, sonst niemandem. Oft schauen wir uns zusammen den Sonnenaufgang an, damit sie wenigstens einen schwachen Eindruck davon bekommen konnte, wie herrlich dieses weißgoldene Licht gewesen war. Mein Herz wurde schwer, wenn ich an die unbeschreibliche Schönheit, die Liebe und Geborgenheit dachte, die mich umfangen hatten. Aber tief in meinem Innern fühlte ich eine Gewissheit, dass ich es irgendwann wieder erleben würde.